Obelix Nutrix, Ania Nowak ©Salzburger Kunstverein

pro re nata

Ania Nowaks Obelix Nutrix meditiert über die Geschichte und Gegenwart von Pflege als künstlerischem und wissenschaftlichem Akt der Fürsorge. Ihre Produktion feierte im Salzburger Kunstverein Premiere und war vom 29. bis 31. November 2024 in den Sophiensælen zu sehen.

Sie tritt auf die Bühne, gekleidet in den weißen Baumwollkittel einer Krankenpflegerin, erhaben auf kniehohen, weißen Schnürstiefeln, aus Leder mit Stilettoabsätzen. Auf ihrem Kopf sitzt eine Schwesternhaube mit silbrig glänzendem Zierstreifen, zwischen den nackten Beinen baumelt eine rote Perlenschnur. Ich spüre die Energie der Künstlerin, erkenne genuin weibliche, lebenspendende Kraft. In rhythmischem Sprechgesang bittet „Supernurse“ das Publikum um Ibuprofen. Sie hat Schmerzen, sie braucht Medizin. Sie fleht uns an.  Eine Zuschauerin erhört sie, wühlt in ihrer Manteltasche, kramt eine weiße Tablette raus. Supernurse wirft sie dankbar ein und spült mit Wasser aus einer kleinen Flasche, die sie aus ihrer Uniform zieht, nach. Wir lieben und bewundern Supernurse. Wir wollen ihr helfen, da sie sich doch auch in ihrer Rolle als Helferin für uns definiert. In der Tradition anderer feministischer Fluxus-Werke – ich denke an Yoko Onos Cut Piece (1964) – sind Vertrauen und Unterwerfung der Motor eines partizipativen Austauschs. Supernurse Nowak zieht uns in ihr Orbit. Sie spielt mit dem inhärenten Vertrauen, das wir im sozialen Kontext des Gesundheitssystems haben (müssen). Mit der Intuition einer Mutter glaubt sie an uns, ihre immanent fragilen, abhängigen Patient:innen. Sie gewinnt unsere Sympathie, unseren Respekt und unsere Zuversicht, indem sie für uns Risiken eingeht, Tag für Tag an vorderster Front, ebenso wie jetzt und hier in der Kantine, wo sie jeden massenproduzierten, identisch-aussehenden Entzündungshemmer schluckt, den man ihr gibt.


©Salzburger Kunstverein


Auf diese Ouvertüre folgt ein 35minütiges Solo, eine eindringliche Erkundung von Pflege als Gabe und Bürde. Supernurse erweist sich als paradoxe Figur, schmerzempfindlich einerseits, die „obelixe“ (übermenschliche, gigantische) Aufgabe der Sorge für andere auf sich nehmend, andererseits. „Nutrix“ verweist auf die Pflegende / das Pflegen (engl. nurse; jemanden freundlich und besonders sorgsam, achtsam behandeln). Sie lindert unseren Schmerz mit ihrer entschlossenen und mitfühlenden Aufmerksamkeit. Ein Augenzwinkern angesichts der archetypischen Rollenspielfantasie: die zarte Frau mit unbotmäßigem Sexappeal, die uns bedingungslos umsorgt, uns nährt, pflegt und berührt, und in ihrem Dienst an und für uns das Risiko nicht scheut. Begleitet vom knappen Staccato der eingespielten Sounds singt sie sanft und luftig über selbstlose Hingabe und ihre vorurteilsfreie Bereitschaft, unsere Bedürfnisse zu befriedigen, durch die Macht taktiler Affekte, Begleitung und die Versorgung mit nicht-menschlichen Heilmitteln: Pharmazeutika.

Basierend auf langjähriger Forschung zu universellen Phänomenen wie Liebe und Krankheit, repräsentiert und seziert Nowak in Obelix Nutrix das Bild der Krankenschwester – und verfolgt deren Geschichte zurück bis zu Florence Nightingale, die als die „Frau mit der Lampe“ (die das Dunkel erhellte, während sie im Krimkrieg verwundete Soldaten versorgte) zum Symbol wurde. Supernurse Nowak spürt unsere individuelle und unfreiwillige Erfahrung vom Leid der conditio humana. Sie sorgt sich um uns, sie kümmert sich, während wir uns im Kontinuum von Leben und Sterben regen. In der letzten Szene sitzt die Künstlerin auf einem Stuhl im Saal, unten, mittig vor der Bühne. Sie verliest unsere medizinischen Rechte und nennt Sterbehilfe als legale und zulässige Option bei unheilbarem Leiden. Sie stellt in den Raum, dass auch der Tod eine Form von „Care“ ist, eine Entscheidung, das Leiden in Begleitung einer/eines Pflegenden würdig zu beenden, im Gegensatz zum willkürlichen und oft schmerzhaften Prozess des natürlichen Sterbens oder der Einsamkeit des Suizids.

Obelix Nutrix ist mit der smarten Choreografie aus Humor und Konfrontation eine Aufforderung an uns, das eng verwobene Netz von Abhängigkeit, Vertrauen und Verletzlichkeit, das Pflege(n) bestimmt, zu reflektieren. Die Produktion drängt uns, zu fragen, wie wir versorgt/umsorgt werden, wie wir uns für das selbstbestimmte Leben und Sterben der anderen einsetzen und ob unsere Autonomie nicht eher ein Akt der Kollektivität, denn individualisiertes Getrenntsein ist.

Übersetzung aus dem Englischen: Lilian Astrid Geese


Obelix Nutrix von Ania Nowak wurde im Salzburger Kunstverein uraufgeführt und war vom 29. bis 31. November 2024 in den Sophiensælen zu sehen.