ada goes garage: „Labor MFL“, Johanna Lemke ©ada Studio / Aïsha Mia Lethen Bird

Post-uterine Bewegungsstörung

Im Rahmen von ada goes garage gibt die Tänzerin Johanna Lemke einen Einblick in ihre Recherchearbeit und inszeniert dort mit dem Musiker Jacob Stoy und ihrem anwesenden Säugling das ebenso marginalisierte wie aufgeladene Thema Mutterschaft.

Gib es irgendjemand auf der Welt, der eine konfliktfreie Beziehung zur eigenen Mutter hat? Heißt Mutter werden, Freiheiten aufgeben oder Erfahrungen gewinnen? Werde ich es später bereuen, keine Kinder bekommen zu haben? Und wie sieht das meine Mutter: bereut sie, Kinder bekommen zu haben?

Kein Thema wirft sofort so viele kontroverse Fragen auf, wie das Thema Mutter und ist gleichzeitig auf der Performancebühne so marginalisiert (mir fällt spontan nur She She Pop ein). Gehört Mütterlichkeit in die Ecke der künstlerisch wenig produktiven Privatheit, eingebettet ins warme Moor der zur Harmonie mystifizierten Kleinfamilie?

Die freiberufliche Tänzerin Johanna Lemke ist Mutter von drei Kindern. Dieses biographische Detail muss hier am Anfang stehen, denn es ist Thema des Kooperationsprojektes des ada Studio und der Garage, einem Produktionsort für Tanz und Performance in Berlin-Lichtenberg. Zwischen September und November 2020 werden drei junge Tänzerinnen und Mütter – Johanna Lemke, Saskia Oidtmann und Maria Walser – per Videostream ihre Recherchearbeiten zeigen. Meine Mutter und ich schauen uns die Performance an getrennten Orten, zu unterschiedlichen Zeiten an – und schreiben uns anschließend unsere Assoziationen. 

Wir blicken in einen Studioraum, die Kamera zeigt uns zwei Wände. Im Hintergrund sitzt die Tänzerin Johanna Lemke, in ihrem Schoß ein Säugling, ihre Mitperformerin und Tochter. Im Vordergrund, halb abgewandt, sitzt der Musiker Jacob Stoy. Wie es zunächst scheint, der Mann fürs Technische – und die Verkörperung der Vaterfigur? An die rückwärtige Wand wird während der Performance ein bunter Glitch projiziert – meine Mutter assoziiert die völlig aus der Mode gekommenen Lavalampen und macht sich Sorgen um eine Reizüberflutung des Säuglings. Auf die andere Wand werden wiederholt gepixelte Gesichter von Frauen und Männern projiziert, die ihre Assoziationen zum Thema Mutterschaft mitteilen – und klarmachen, dass es keine einheitliche Vorstellung von Mutterschaft gibt.

Johanna Lemke legt behutsam ihr Baby ab und beginnt mit weit ausufernden Armbewegungen, die die Luft zerschneiden und sich allmählich auf ihren ganzen Körper ausdehnen, zu tanzen. Von was wird sie getrieben? Ihr weites Kleid – eine Mischung aus volkstümlicher Tracht und unschuldigem Madonnengewand – schirmt vor zudringlichen Blicken ab. Währenddessen geht Jacob Stoy zu einer Bücherecke. Ich erkenne sofort das grün-leuchtende Cover von „I love Dick“ und die fetten Buchstaben von „King Kong Theory“. Ein schöner, ausgeglichener und ruhiger Moment entsteht, als jede*r für sich, einander nicht störend, liest, krabbelt, tanzt. Die trügerische Harmonie einer Kleinfamilie.

Mit behutsam-zarten und dennoch fest-zupackenden Händen nimmt Johanna schließlich ihr Baby und geht zu Jacob. Alle drei, selbst der bäuchlings abgelegte Säugling, blättern durch Buchseiten, bis Johanna beginnt, das Baby im Arm, etwas vorzulesen: Youporn Titel, weiblicher, männlicher Orgasmus – kommt es beim Sex überhaupt darauf an? Das Baby quietscht kommentierend und schaut interessiert in die Kamera. 

Es folgt ein schönes Duett mit Mutter und Baby, das wie in einer Wiege in ihren Armen liegt, dann hoch überm Kopf fliegen darf, und schließlich über Kopf, Hals und Schultern seiner Mutter abwärts rollt. Wie im Contact Impro werden Bewegungen achtsam aufgenommen und weitergeleitet. Und ich frage mich wieder: Warum habe ich so etwas noch nie auf einer Performancebühne gesehen? Brauchte es dafür erst diesen corona-bedingten, geschützten, halb öffentlich, halb privaten Raum, der ins anonyme Internet gestreamt wird? Ist Mutterschaft tatsächlich ein Thema, das sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Kunst eher gemieden wird? Oder liegt es an meinem selektiven, weil kinderlosen Blick? 

Hier, im synthetischen Kunstraum scheint es zunächst so, als ob die Mutter-Kind-Symbiose eine Idylle der Zweisamkeit sei. Aber da entledigt sich Madonna ihres volkstümlich-sakralen Kleides. Und eine mit rotem Body bekleidete Frau, stabil geerdet durch ihre Joggingschuhe, tanzt einen kraftvollen erotischen Tanz für sich selbst. Später wird sie in genau diesem Body ihrem Säugling die Brust geben. Ein völlig unauffälliger Vorgang. Der noch in den 1980er Jahren, sagt meine Mutter, in der Öffentlichkeit eine ungeheuerliche Provokation war – und hier einfach nur ein schönes choreografisches Element.

Als die drei für einen kurzen Moment die Studiotür öffnen und hinaus ins nüchterne Tageslicht von Berlin-Lichtenberg treten, erhaschen wir für einen winzigen Moment einen Blick auf die Straße, die kleinen Wohnhäuser gegenüber und sogar auf zwei zufällige Passanten. Die Phantasie von der harmonischen Mutter-Kind-Symbiose zerplatzt dabei wie eine Blase. Auch wenn sie im Studio ausgesperrt scheint, ist die soziale Wirklichkeit immer präsent. Wir treten schnell wieder zurück in den jetzt noch psychedelischer wirkenden Kunstraum. Mit einer glitzernden Wrestlingmaske auf dem Kopf beginnt Jacob, die bislang abwesende Vaterfigur, rote und grüne Linien auf dem Fußboden zu markieren und setzt sich, von Johannas Bewegungen und Gesang inspiriert, mit immer gleichen, erst ausholenden, dann den eigenen Körper berührenden Armgesten in Bewegung – bis diese sich zum meditativen Ritual verselbstständigen. Währenddessen zeigt die Videoprojektion eine Transfrau – deutlich erkennbar, unverpixelt. Ihre letzten Worte sind Trans-lation, Trans-lation. Müssen wir unsere Geschlechterrollen, die wie soziale Masken unser Verhalten bestimmen, immer wieder neu, das heißt anderes, ausprobierend miteinander aushandeln?

P.S.: Meine Mutter hat meine Frage, ob sie ihre Mutterschaft bereut, nur ausweichend mit Jein beantwortet und sich mal wieder hinter dem pessimistischen Gedicht von Philip Larkin versteckt: „They fuck you up, your mum and dad. They may not meant to, but they do. They fill you with the faults they had and add some extra, just for you.“


„Labor MFL“ von TEAM VOLUME (Johanna Lemke, Teresa Monfared, Jacob Stoy, Therese Witt) ist vom 11. September, 18 Uhr, bis 13. September 2020, 23.59 Uhr auf der Website des ada Studio im Videostream zu sehen. 


Nächste Termine ada goes garage – In Kooperation mit Garage, Videostream >>> 9.-11. Oktober 2020 reinkommen on screen: Von und mit Saskia Oidtmann, 20.-22. November 2020 reinkommen on screen: Von und mit Maria Walser.