„Lessons for Cadavers“, Michelle Moura ©Mayra Wallraff

Nicht leben können, nicht sterben dürfen

„The opposite of life is not death, but disenchantment“ — damit ist der Abendzettel von „Lessons for Cadavers“, das vom 12.-15. November 2022 in den Sophiensælen zu sehen ist, überschrieben. Die brasilianische, in Berlin lebende Choreografin Michelle Moura zeigt wieder einmal ein bezauberndes Stück über eine entzauberte Welt.

Im Vorfeld der gerade noch einmal gut ausgegangenen brasilianischen Präsidentschaftswahl jagte ein Skandal um den rechten Kandidaten Jair Bolsonaro den nächsten. Doch was auch immer er tat oder sagte — selbst von den schlimmsten Vorwürfen, wie etwa Pädophilie, zeigten sich seine Anhänger*innen unbeeindruckt. Es schien beinahe, als verfüge der „Messias“ über eine Aura, die ihn vor Umfragetiefs bewahre. Erst als ein altes Interview viral ging, in dem Bolsonaro nonchalant verlauten ließ, er hätte kein Problem damit, eine indigene Person zu essen, bröckelte der Schutzzauber. Eine solchermaßen abgestumpfte und abgekapselte Realität, die sich nur noch von Geschichten mit mystischer Aufladung irritieren lässt und ausschließlich für die News-Alerts der Messenger-Dienste offen ist, ist einer der vielen Ausgangspunkte von Michelle Mouras „Lessons for Cadavers“.

In ihrer neuen Arbeit erschaffen Moura und ihre beiden Co-Performer*innen Clarissa Rêgo und Jorge De Hoyos drei Entitäten, deren groteskes In-der-Welt-Sein irgendwo zwischen Leben und Tod situiert ist. Aus ihrer vorherigen Arbeit „Overtongue“ erkennt man die virtuos choreografierten Gesichter und die präzise ausgearbeiteten Körperlichkeiten wieder, die in manchen Momenten beinahe ins Pantomimenhafte übergehen. Eingebettet in einen mal animalisch, mal mechanisch gewobenen Klangteppich und in eine düster-bunte Lichtstimmung getaucht, entsteht eine Landschaft wie ein Fiebertraum, die zwischen Horror und Komik hin- und herschwankt (Musik & Sounddesign: Kay Duncan David, Lichtdesign: Annegret Schalke). Die Übertreibung der Mittel, die eigentlich verfremdend wirken könnte, hat auf unheimliche Weise den gegenteiligen Effekt: Je absurder die Performance wird, desto mehr nähert sie sich dem ganz alltäglichen Horror im Racial Capitalism an, den manche (wie ich) privilegierter Weise vermittelt über den Twitter-Newsfeed erfahren, andere hingegen am eigenen Leib. Horror hat sich spätestens durch die Filme von Jordan Peele, aber auch durch Performance-Arbeiten von Marlene Monteiro Freitas oder Ligia Lewis als prädestiniertes Genre für Sozialkritik erwiesen.

Nach langer Stummheit finden die Performer*innen im letzten Drittel des Stückes zur Sprache, erst einzeln und dann auch im Chor. Sie reden mechanisch, als ob jedes Wort die Note eines Instruments wäre, auf dem eine mächtige, übergeordnete Instanz monotone Tonfolgen improvisiert. Es sind keine Dialoge, die sich hier entspinnen, noch nicht einmal Monologe, sondern am ehesten dissoziativ nebeneinanderschwebende Blasen, die aus der Tiefsee des kollektiven Unbewussten emporsteigen. In der verdrehten Welt der Untoten — oder Unlebenden — verwesen Wahrheit und Bedeutung. Sprache schafft keine Ordnung und Klarheit mehr, sondern Unordnung und zusätzliche Opazität. Bis sich plötzlich doch Bedeutung hinter den Wortfolgen aufzutun scheint und vermeintliche Einblicke verschafft: „life is too much for me / life is too much for anyone / it’s disgusting to look inside / the hell under the skin“ (Dramaturgie & Texte: Maikon K). Haben die Kadaver etwa doch (noch) ein Innenleben, eine Kadaver-Subjektivität?

Weil die Figuren in „Lessons for Cadavers“ so undurchschaubar bleiben, lässt sich viel in sie hineinsehen: Sind sie die abgestorbenen Lebenden, die den inneren Tod als Preis dafür gezahlt haben, mit all dem Wahnsinn, der sie umgibt, zurecht zu kommen? Sind sie die Weniger-als-Menschen, jene auf der dunklen Seite der Aufklärung, das „untote Nachleben der modernen Subjektivität“ (Suely Rolnik), denen der Status der Humanität bis heute nicht zuerkannt wurde? Sind sie die längst Ausgestorbenen, Ausgerotteten, die irgendwie weiterleben, auch wenn ihr Land, ihre Sprache und ihre Kultur längst nicht mehr existiert? Das Sterben einer Person ist in den meisten Kulturen ein mehrstufiges Verfahren — es reicht nicht aus, dass der Körper stirbt, der Name muss aus den Akten gelöscht und der Leichnam bestattet werden. Dem Kadaver ist der Tod in den Akten und die Bestattung versagt worden, er ist der verstorbene Körper, der vor den Augen aller verrottet und stöhnend von der Möglichkeit des nicht gestorbenen Todes kündet. Vielleicht ist die „Lesson for [and from] Cadavers“, mehr noch als die „unbegreifliche Macht“ des Lebens, die „Gnade des Todes“ (Zitate aus dem Abendzettel) — und was für eine Seltenheit ein würdevoller Tod, nebst der Möglichkeit, ihm beizuwohnen, immer noch ist.


„Lessons for Cadavres“ von Michelle Moura feierte am 12. November 2022 in den Sophiensælen Premiere.