SPELL von Igor Shyshko feierte am 16. und 17. November 2024 im Rahmen des VOICES Performing Arts Festival im Radialsystem Weltpremiere.
Steine
Steine – für mich sind sie weise und würdige Wesen. Im Theater entdecke ich einen Stein, auf einem Sitz im Saal. Ich setze mich neben ihn. Ich schaue mich um und sehe weitere Steine. Zwei Tanzende, Albina Vakhitova und Igor Shyshko, binden sich Steine an ihre Füße. Sie tragen sie als Schuhe. Auf einer Bühnenseite liegen Steine gestapelt. Sie bilden ein Podest, auf dem eine Schale ruht.
Klänge
Hinter dem Podest sitzt Elke Van Campenhout und vollführt diverse Aktionen: Sie reibt sich die Hände, gießt Wasser in die Schale, entzündet ein Streichholz direkt über dem Mikrofon oberhalb der Schüssel, das jedes Geräusch enorm verstärkt. In dieser geradezu gruseligen Stimmung sind meine Sinne hellwach. Bald überschallt laut dröhnende Musik diese zarten Töne. Ich vermisse sie, konstatiere ich betrübt. Jetzt erklingen verschiedene Musikstile im Saal, hier und da begleitet von Campenhouts Stimme. Mal spricht sie Deutsch, mal Englisch, mal Französisch. Zwei der drei Sprachen verstehe ich, und ich höre, dass sie von einer Kaviarfabrik spricht, von „verkörperter Fiktion“, Schwerkraft und Altern. Der Text ihres längeren Gesangs zum Ende der Performance ist in der lauten Musik nicht mehr zu wahrzunehmen.
Ebenfalls akustisch dominant im Saal sind die Steine an den Füßen der Tanzenden, wenn sie auf den Boden treffen oder über ihn schleifen.
Bewegung
Vakhitova und Shyshko bewegen sich langsam, als zögen sie durch eine Felslandschaft. Ihre Muskeln zittern. Sie offenbaren die Schwierigkeit, auf Steinen an den Beinen laufend die prekäre Balance zu halten. Ihre Verrenkungen morphen in bewusste Posen, in denen sie den Körper absichtlich aus dem Gleichgewicht bringen. Schließlich fallen sie, doch ihr Sturz wirkt choreografiert und geprobt. Anschließend kämpfen sie sich durch einen Pas de Deux, bei dem sie statt Spitzenschuhen Steine tragen, bis sie diese endlich von den Füßen lösen. Es folgt ein hypersexualisierter Tanz. Alles durchgehend mit einem falschen Lächeln auf dem Lippen. Ich rieche den Schweiß, der von seinem Körper tropft, als Shyshko dicht an mir vorbeiläuft. Als die Musik für einen kurzen Moment stoppt, endet auch ihr verrückter Tanz. Die nächste Szene beginnt mit einem lockeren Unisono, das sich sukzessive in eine Art Improvisation wendet. Der Tanzstil ist charakteristisch für Contemporary Dance Kurse.
Fragen
Ich sehe das Stück und frage mich, was Ritual und Repetition bedeuten. Im Programm heißt es: „SPELL ist eine rituelle Choreografie über Erschöpfung und die Mehrdeutigkeit von Wiederholungen”: „In der Repetition liegt eine Kraft, die fast wie ein Zauber wirkt“ und sie „zu einer Form des politischen Widerstands“ macht. Verweisen die sich wiederholenden Bewegungen im letzten Akt auf genau dieses Repetitive? Sie erscheinen mir als zu generisch und unstrukturiert, als dass sie „wie ein Zauber wirken“ und als solcher Bedeutung bergen könnten. Was macht diese Inszenierung politisch? Steht die erdrückende Schwere der Steine für gesellschaftlichen Druck? Was wäre dann das Ritual in SPELL, das „der Ohnmacht unseres täglichen Widerstands… trotzt”? Die Fragen bleiben, wie lose Enden, die sich einer vollkommenen Verknüpfung für immer entziehen.
Übersetzung aus dem Englischen: Lilian Astrid Geese
SPELL von Igor Shyshko feierte im Rahmen des VOICES Performing Arts Festival am 16. und 17. November 2024 im Radialsystem Premiere.