Künstler-Residenz Lina Gómez im Radialsystem, November 2020 ©Phil Dera

In der Stille bewegt sich etwas weiter: über die Bedeutung von Residenzprogrammen im Tanz

Ob wir es erwartet haben oder nicht, ob wir das Geschehen und die Gefühle der ersten Welle verarbeitet haben oder nicht, der zweite (Teil-)Lockdown hat uns in eine ähnliche Situation wie im März zurückversetzt, als wir – Annette, Jette und ich – gerade begonnen hatten, für das tanzschreiber-Portal über das Berliner Tanzgeschehen zu berichten. Es sind intensive Monate gewesen, in denen wir unsere Tanzneugier hauptsächlich mittels Online-Formaten gestillt haben, während, wie wir alle wissen, Tanz doch die meist physische Kunstform par excellence ist (für die Künstler*innen aber auch die Zuschauenden). So haben wir versucht, uns mit Fragen über die Praxis, „wie, wo, woran und mit wem können Tänzer*innen und Choreograf*innen derzeit arbeiten?”, und über den*die Empfänger und insbesondere „worüber sollen Kulturjournalist*innen berichten” zu befassen. Dann kam die Lockerung im Sommer, und jetzt sind wir ‚back to square one‘. Wir wissen aber, anders als vorher, was uns erwartet. Einigen Künstler*innen fällt (auch da ihre Arbeiten sich besser für Online-Adaptionen eignen) das Umdenken leichter, anderen leider nicht. Es ist ein Gefühl von Wut, was ich manchmal in der Stadt spüre: die stumpfe, traurige Wut eingeschlossener Tiere und die (zum Glück seltenere) existentielle Wut derer, die nicht wissen, wie sie über die Runden kommen sollen (wenn Ihr dazu in der Lage seid, unterstützt bitte Eure Mitmenschen!). Und wie beim ersten Lockdown bewegt sich etwas in der Scheinstille der geschlossenen Aufführungsorte. 

In diesem Moment sind Residenzprogramme besonders wichtig: Sie bieten Choreografen*innen und Tänzer*innen einen Rahmen, um (weiter) arbeiten zu können. Mit dem Residenzprogramm „Body Time Space“ dürfen insgesamt drei Berliner Künstler*innen(-Gruppen) in 2020 und 2021 eine je vierwöchige Residenz in den Räumlichkeiten des Radialsystem verbringen. Das im Herbst begonnene Programm läuft im kommenden Jahr weiter und ist Teil des Pilotprojekts „Residenzförderung für Berliner Tanzschaffende” der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa.[1] Nebst dem Radialsystem gehören acht weitere Produktionsorte zum Pilotprojekt, dessen Besonderheit darin liegt, dass es einerseits die dezentrale Struktur der Berliner Tanzorte und deren Spezifika nutzt und gleichzeitig kontinuierliches künstlerisches Arbeiten für in Berlin ansässige Tänzer*innen und Choreograf*innen hier vor Ort, in Berlin, ermöglicht. Lina Gómez ist eine der Gastkünstler*innen im November. Sie ist mit einer Gruppe angetreten, die u.a. vier Tänzer*innen, zwei Musiker*innen und einen Lichtdesigner umfasst, die in einem transdisziplinären Dialog der künstlerischen Disziplinen stehen.[2] Die Resultate von Gómez’ Residenzzeit im Radialsystem wurden am 17. November 2020 via Live-Stream präsentiert und diskutiert. 

Am Anfang des Stücks (und ich erkläre später, wieso ich als solches bezeichne) erleben wir, wie Lina Gómez und ihre Tänzer*innen mit Imaginationsbildern arbeiten. Die Tänzer*innen um sie herum geraten so in einen anderen Zustand. Ab diesem Moment entstehen weitere Bilder wie bei einem aufgezogenen Uhrwerk wie von selbst. Durch ihre Bewegungen, aber auch durch die Klangräume von Paulina Mius archaischem Gesang, gekoppelt mit Michelangelo Continis digitalem musikalischen Ansatz, entsteht der Eindruck von Gebirgen, die sich langsamen aber stetig verändern und entwickeln. Ein Thema der Residenz war die Auslotung der Grenze zwischen Eigenständigkeit und Abhängigkeit der involvierten Disziplinen. Gemeinsame Erlebnisse und Erinnerungen — alle Künstler*innen nahmen an Übungen der jeweils anderen Kunstformen teil — fördern eine starke Verbundenheit bei gleichzeitiger Autonomie, eine Verbundenheit, die auch durch die Kameralinse spürbar ist. Die Verlagerung eines traditionellen, informellen Showings auf den Live-Stream, der nach dem Ereignis noch aufrufbar ist, positioniert die künstlerische Arbeit zwischen die Intimität eines Work-in-Progress und der festgehaltenen Form eines Endproduktes. Auf der einen Seite eröffnet dies die Möglichkeit einer geographischen Teilnahme für jene, die nicht in Berlin sind (wie z.B. Gómez’ Mutter), aber zugleich ist es auch weniger ‚verspielt‘. Als Zuschauerin vermittelte sich mir eher Ersteres, während die Künstler*innen in der Diskussion Zweiteres hervorhoben. 


Fotos: Künstler-Residenz Lina Gómez im Radialsystem, November 2020 ©Phil Dera


Das Pilotprojekt „Residenzförderung für Berliner Tanzschaffende“ ist entstanden, um künstlerischer Entwicklung Zeit und Raum zu gewähren und Arbeitszusammenhänge zwischen in Berlin lebenden und arbeitenden Künstler*innen und Orten langfristig zu fördern. Schon bevor Corona-bedingte Reisebeschränkungen internationale Residenzaufenthalte deutlich erschwerten, stellten Künstler*innen die Sinnhaftigkeit jahrelangen globalen „Tourings“ von einer Residenz zur nächsten in Frage, ging es doch oft nur darum, einen Ort zu haben, um fokussiert arbeiten zu können. In einer Zeit, in der nun Aufführungen vor Publikum verboten sind und Produktionsabläufe in den Spielstätten zum Erliegen kommen, ist es für Künstler*innen von größter Bedeutung, Zugang zu einem Raum zu haben (ganz physisch), und diesen auch (und sei es nur virtuell) für Zuschauer*innen zu öffnen. Nur so kann Tanz weiterhin entwickelt und mit einem Publikum geteilt werden.


Informationen zum Residenzprogramm „Body Time Space“ im Radialsystem sowie Lina Gómez’ Showing sind unter https://www.radialsystem.de/residenzprogramm/ abrufbar.


[1] Das Pilotprojekt „Residenzförderung für Berliner Tanzschaffende” ist ein Ergebnis aus dem Runden Tisch Tanz (2018) angesichts der fehlenden institutionellen Verankerung des Berliner Tanzes. Die neun Produktionsorte für Tanz mit Residenzprogrammen im Jahr 2020 und 2021 im Rahmen des Pilotprojekts sind: ada Studio, ausland, FELD Theater für junges Publikum, Flutgraben Performances Residencies, Lake Studios Berlin, radialsystem, Sophiensaele, Tanzfabrik Berlin, Uferstudios.

[2] Zu Gómez Team gehören Michelangelo Contini, Julek Kreutzer, Paulina Miu, Bruno Pocheron, Kiana Rezvani, Mariana Romagnani, Thomas Schaupp, Lena Strützke, Kasia Wolińska und Henriette Zimmermann.