Integrierte Audiodeskription (AD) wird momentan als künstlerisches Medium „immer stärker weiterentwickelt und wahrgenommen“, sagt die Blinde Autorin Pernille Sonne. „Wir wollen nicht, dass sich dieses gerade geöffnete Tor zu mehr Teilhabe wieder schließt.“
Eine träge Stubenfliege summt ziellos von rechts nach links durch den Raum, lässt sich mal hier und mal dort nieder. Lau Lozzas Augen verfolgen das Insekt mit argwöhnischem Blick. Wenn es ihr zu nah kommt, lassen ihre Hände die Knotenarbeit, an der sie gerade knüpft, in den Schoß fallen, um mit einem lauten Knall in der Luft zusammen zu klatschen. Verfehlt! Die Hände der Performerin nehmen die Seile wieder auf. Zwischen ihren leicht geöffneten Lippen bewegt sich ihre Zungenspitze zurück an den Gaumen und die Luft, die sie ausatmet, bringt nun wieder das bereits gehörte Summen hervor. Ich schließe meine Augen und versuche, mir die onomatopoetische Fliege in einer Nahaufnahme vorzustellen, wie sie müde und wankelnd ihre Bahnen durch die Luft zieht. Da reißt mich ein erneutes Klatschen aus dem Traum. Lau Lozza ruft „Jetzt hab’ ich sie!“
Sechs Schwestern von Lea Moro @Dieter Hartwig Bildbeschreibung: Die Performerin Lea Moro sitzt auf dem Boden und hat sich ein Ende eins grauen geflochtenen Seilstrangs über die Spitze ihres Fußes gestülpt, um es zu fixieren. Mit der rechten Hand legt sie gerade eine Schlaufe, mit dem linken Arm holt sie weit aus, um das Seil durch die Schlaufe zu ziehen und einen weiteren Knoten zu machen.
Die beschriebene Szene ist Teil von Sechs Schwestern, einer Arbeit der Choreografin Lea Moro, die sich an der Schnittstelle zwischen Tanz und Sprechperformance bewegt. Angelehnt an Tschechows Drei Schwestern unternimmt die Arbeit den Versuch, das für Blinde und sehbehinderte Menschen entwickelte Medium der Audiodeskription (AD) nicht als Service-Add-On auf die Performance obendrauf zu setzen, sondern als künstlerisches Material einzusetzen. Konsequent beschreiben die drei Performerinnen selbst alle ihre Handlungen, die Kostüme, Objekte und Veränderungen des Lichts auf der Bühne. Manchmal bedienen sie sich dabei der Lautmalerei, manchmal tschechowscher Zitate. Dabei verschmelzen Handlung und Beschreibung zu einer ganz eigenen Art dokumentarischer Poesie, die mich im Kontext des Themenkomplexes Arbeit, Produktivität und Sinn(losigkeit) bisweilen an Simone Weils Fabriktagebuch (im Original: La Condition Ouvrière, 1951) erinnert.
In Gesprächen mit der Blinden Schauspielerin, Dramaturgin und Autorin Pernille Sonne, sowie mit der sehenden Künstlerin, Choreografin und Audiodeskripteurin Emmilou Rößling, die auch als Performerin in Sechs Schwestern mitwirkt, habe ich genauer nachfragen können, wie ADs entstehen, welche Strategien die in Co-Autor*innenschaft arbeitenden Teams aus Blinden bzw. sehbehinderten und sehenden Deskripteur*innen anwenden, und vor welchen Herausforderungen ihre wichtige Arbeit am Abbau von Barrieren momentan steht.
Sechs Schwestern von Lea Moro @Dieter Hartwig Bildbeschreibung: Das Bild zeigt den Oberkörper der Performerin Lau Lozza, die den Kopf leicht nach unten neigt, wahrscheinlich um auf die Arbeit in ihren Händen zu schauen. Sie hat die Lippen gespitzt und pfeift bei der Arbeit.
Klassische ADs, die vor allem von größeren Theatern inzwischen häufiger angeboten werden, erklärt Rößling, entstehen im sogenannten Retro-fitting. Das heißt, die Co-Autor*innenteams besuchen eine Endprobe oder arbeiten mit einer Stückaufzeichnung, anhand derer sie ein Skript zur Beschreibung von Bühne, Figuren und szenischer Handlung verfassen. Häufig, so Sonne, sei die Herausforderung, die AD, die während des Stücks live gesprochen und über Kopfhörer zugänglich gemacht wird, nicht zu überfrachten. „Ich persönlich versuche, das sehr reduziert zu halten, damit alles andere, was das Stück ausmacht, auch noch erfahrbar und verständlich ist“, sagt sie. Dass die Teams der Deskripteur*innen gemischt sind, das wird hier bereits deutlich, ist zentral. Denn ob die Beschreibungen für Blinde und Sehbehinderte funktionieren, können diese selbst am besten beurteilen.
Gemäß des Leitspruchs der internationalen Behindertenbewegung „Nichts über uns ohne uns“ sind sich die beiden Autorinnen zudem darüber einig, dass es um Barrieren abzubauen und Zugänge zu schaffen, noch viel mehr braucht. Es beginne schon mit der Frage danach, ob die Spielstätte beispielsweise einen Abholservice anbiete, so Rößling. Sonne wiederum nennt als Beispiel die Tast- oder Haptikführung, bei der Blinde und Sehbehinderte vor Beginn des Stücks Raum, Bühnenbild, Objekte, die Textur von Kostümen selbst ertasten könnten. „Es muss einfach nah dran sein; man braucht Nähe wenn man Blind oder sehbehindert ist“, sagt sie. Auch deshalb freut Sonne sich darüber, dass künstlerisch-integrierte Formen der AD, wie etwa in Sechs Schwestern, immer häufiger werden. Gerade im Tanz, wo es weniger um sprachliche Inhalte gehe, gebe es so viele Möglichkeiten, mit dem Atem, mit Schritten, dem Geräusch der Kostüme, mit Klangkulissen oder eben auch mit poetischer Sprache zu arbeiten.
Sechs Schwestern von Lea Moro @Dieter Hartwig Bildbeschreibung: Die drei Performerinnen Lau Lozza, Lea Moro und Emmilou Rößling sitzen auf dem Boden. Zwischen ihnen hängt eine geknüpfte Installation aus dickeren Schiffstauen und dünneren Seilen von der Decke. Die Hände der Performerinnen knoten an unterschiedlichen Enden der Installation daran weiter.
Die Strategien künstlerisch-integrierter AD sind vielfältig, werden ständig erweitert und entstehen meist in Resonanz mit den von der spezifischen Arbeit verhandelten Themen. Eine konkrete Herausforderung dabei ist der finanzielle Mehraufwand und dass häufig unklar ist, wem die Finanzierung bestimmter Maßnahmen obliegt. Was sollten Spielstätten anbieten, was wiederum muss in die Projektbudgets der Künstler*innen einberechnet werden? Praktisches Wissen und kreative Übungen rund um die künstlerisch-integrierte AD gibt es in den Workshops, die die Choreograf*innen und Access-Dramaturg*innen Carolin Jüngst und Naomi Sanfo gemeinsam geben. Ihre Workshops sind für viele Künstler*innen ein hilfreicher Einstieg in die Arbeit mit AD. In Berlin hat der Produktions- und Spielort ausland sie bereits zum zweiten Mal eingeladen. Leider sei der Förderantrag für solche Formate zum Zweck des Barriereabbaus in diesem Jahr nicht genehmigt worden, bedauert ausland-Mitbetreiberin Ruth Waldeyer und erinnert mich dabei an Pernille Sonnes Aussage, dass Tanz mit und für Blinde und sehbehinderte Menschen zu machen, in erster Linie eine Bewusstseinsarbeit sei. Ein Bewusstsein, scheint mir, dass es weiterhin gilt nicht nur in choreografischen Prozessen, sondern auch in politischen Verhandlungen zu erweitern.
Sechs Schwestern von Lea Moro @Dieter Hartwig Bildbeschreibung: Auf dem Foto stehen die drei Performerinnen Lau Lozza, Lea Moro und Emmilou Rößling eng beieinander. Ihre Arme sind in unterschiedliche Richtungen in die Luft gehoben, in einem Tanz, der die Bewegungen des Seilknüpfens imitiert. Im Hintergrund ist die geknüpfte Seilinstallation zu sehen, die von der Decke hängt und bis zum Boden reicht.