Inspiriert durch antike Runen: Dawn von Adam Seid Tahir, wurde uraufgeführt am MDT Stockholm und war im Rahmen von Making Life in the Ruins vom 23. bis 25. Mai in den Sophiensaelen in Berlin zu sehen.
Wir schweben im nebeldunklen Abgrund einer Welt, die sich öffnet, wenn wir die Augen schließen. Wir sitzen oder stehen irgendwo, die Mitte des Raumes bleibt traditionell frei, und blicken vom Rand ins Leere. Drei Rampen bilden Inseln, metallische Anhöhen in dunstiger Landschaft. Eine Milchstraße. Adam Seid Tahir hockt auf einer dieser glitzernden Schrägen, gehüllt in schwarze Tücher und viel Leder. An den Füßen Stelzen mit gespaltenen Pferdehufen. Hochkonzentriert drillt they mit einem Bohrer Zeichen ins Blech. Wir hören abruptes Maschinensirren, ein unregelmäßig aufflackerndes, kurzes Brummen, das nichts über die Konturen der Inschriften verrät. Irgendwann werden die Bohrgeräusche zum Hintergrundrauschen, das mich immer tiefer in die traumhafte Umarmung des Nachthimmels lullt, unter dem wir uns versammeln und der das Strahlen der Podeste spiegelt wie Sternenlicht.
Tahir widmet sich mit dem Werkzeug der anderen Seite einer Schräge. Die Gruppe der Zuschauenden, bei denen ich sitze, sieht einen nackten Hintern durch die Lücken im Stoff aufblitzen, bevor unter der Plattform Dampf aufsteigt und uns aerosolige Rauchwolken die Sicht nehmen.
Eine Klanglandschaft aus langem Dröhnen und mystischen Tönen baut sich auf und betört mich, Soundpartikel streicheln sanft die feinen Verästelungen meines Nervensystems. Energie wird freigesetzt, verteilt sich und verflüchtigt sich mit den Dunstschwaden.
Tahir läuft die Rampe hinab, kriecht langsam, sich dehnend, in eine Ecke des Raumes. Katzengleich gleitet der Körper durch die Grüppchen von Zuschauenden, kommt ihnen sehr nah, durchschneidet sie gleichsam. Aufquellender und sich wieder entfernender Hufklang galoppierender Pferde wabert durchs Auditorium. Ich spüre die potente, sanfte, herabsinkende und wieder aufsteigende Bewegung als Regung eines hybriden Körpers, ein Nixenhengst, der am Horizont große Achten kurvt und sich durch flüssiges Land schlängelt.
Tahirs Tun fesselt mich, es fasziniert mich und wandelt mein Zeiterleben. Wir hängen in endlosen Loops, in denen sich das Repetitive auflöst. Anfang und Ende absorbiert von der Kontinuität elementarer Muster. They sucht sich Zonen, um die permanente Bewegung zu pausieren, Finger zeichnen schnelle Linien, ein Körper folgt sich ändernden Richtungen. Das katzenähnliche Wesen schlängelt sich weiter. Tahir schiebt einen Scheinwerfer über den Boden, erhellt damit das Publikum und das reflektierende Bühnenbild, das they selbst ins Licht rückt.
Dann hält they in der Lichtbewegung inne, richtet einen Leuchtstrahl nach oben, bewegt sich, stoppt, zeichnet Achten auf den Boden, setzt die Sequenz auf der vertikalen Ebene fort. They beugt sich über die Kante einer Rampe und träufelt Flüssigkeit. Die Wolken brechen auf, leichter Regen fällt, es wird Tag.
Dawn (Morgendämmerung) ist ein sinnliches, zartes Kreisen, ein Schweben in ephemeren Zyklen, performt mit dem intensiven Gefühl, das die Menschen in Richtung der reinen Magie der Existenz führt. Als würden wir nachts aufwachen und warten, bis die Sonne aufgeht. Diese Performance ist ein empfindsames, hingebungsvolles Gebet an den Kreislauf von Zeit, Raum und Licht, das mich einlädt, in den Galaxien des Lebens zu meditieren.
Nach dem Schlussapplaus nähere ich mich der Rampe, die Tahir mit dem Bohrer bearbeitete. Twilight enby twilight baby; gods; Why so binary?; Afro-viking new identity; skinfaxi und zwei Kreise bilden ein Venn-Diagramm. Pferde galoppieren über die Linie: fließende, fantasievolle Bedeutungsbilder, Materie eingebettet in endlos wogende Konstellationen von Relationen.
Übersetzung aus dem Englischen: Lilian Astrid Geese
Dawn von Adam Seid Tahir wurde vom 23.–25. Mai 2025 im Rahmen des Festivals Making Life in the Ruins in den Sophiensælen gezeigt.