Tanznacht Berlin 2020 – Vertigo (Part One) ©Dieter Hartwig

Displaying Displacement – oder Ausgestellte Verschiebungen/Verlagerungen: Die Tanznacht Berlin Vertigo (Part One)

Mit kleinen und großen Änderungen am ursprünglichen Programm und durch das große Engagement des Festivalteams konnte die Tanznacht Berlin 2020 der Tanzfabrik Berlin eröffnet werden. Installationen, Konzerte und Aufführungen bespielen das Gelände der Uferstudios fünf Tage, bis zum 13. September. Zwischen Mundschutz, vorgegebenen Wegen und Kontingentierung ist das Resultat mehr als herzerwärmend, da wird es einem am Eröffnungsabend fast schwindelig vor Erwartung (auf die Saison 2020/21 der Tanzsparte), wie der Titel des Festivals – “Vertigo” – verspricht.

Der zwischen Dezember 2019 und Januar 2020 verfasste kuratorische Text für das Festival kann fast als eine prophetische Vorhersage gelesen werden. Das ursprüngliche Thema “Displacement” (Verschiebung, Verdrängung, Verlagerung), das die Tanznacht auch für die nächsten Jahre begleiten wird, ist während dieser pandemischen Zeit noch passender als zu dem Zeitpunkt, an dem die Kuratoren Jacopo Lanteri und Julian Weber diese Wörter geschrieben haben: unsere Prioritäten haben sich allgemein verschoben, man hat Kontakte für einige Zeit verdrängt, und unsere Arbeit wurde so viel wie möglich auf Online-Formate verlagert. Wir haben alle eine Art von Displacement erlebt.[1]

In dem zu InfoPoint und Bar-Installation umgewandelten Studio 12 thront eine viereckige Konstruktion, auf der man ‘loungen’, und Teile aus Stanley Kubricks “2001: Odyssee im Weltraum” auf einer 360°-Leinwand gucken kann. Die kulinarischen Experimente der “OGITREV” Bar-Installation werden von den Mixologist*innen des Künstler- und Kurator*innenverbandes neue häute e.V. betrieben (ebenso wie die Café-Bar Ana Conda am Ufer (ACaU), die in Kürze auf dem Gelände eröffnen wird). 

Ein Teil des anfänglichen Konzeptes ist die Ausstellung im Uferstudio 14 – die nun etwas umfangreicher geworden ist, da einige Aufführungen nur als Installationen zu sehen sind, während andere erst nächstes Jahr gezeigt werden. Von den neun Künstler*innen/Künstlergruppen, die ihre Werke im Studio 14 ausgestellt haben, zeigen nur zwei den leiblichen Körper als ästhetisches Objekt – “when it lands will my eyes be closed or open?” von Roger Sala Reyner, Guillaume Marie und Igor Dobričić, und “Gummimauer /flexible walls” von Rike Horb -, die anderen arbeiten mit Spuren des Körpers oder dem Agieren des Körpers.2 Das Atem-Geräusch im Video “Breathing With_1” von Jana Unmüßig und Miriam Jakob wirkt auf mich beruhigend und so nehme ich die kleinen Bilder um den Fernseher herum – auch Teil des Stückes – nicht wahr. Yvon Chabrowskis wunderschöne Mimik im Video Skulptur “An Interview with H.R.H The Princess of Wales” bringt mich zum Nachdenken, aber nicht so tief und auch nicht an das, was mir versprochen wird, oder es kommt nicht bei mir an. An den neuen Kontext angepasst und hinter einem runden Vorhang ist “The Zone of Stellar Fauna” von Leon Eixenberger & Kat Válastur zu finden. Die Stimme der weinenden Tänzerinnen verführt wie der Gesang von Meerjungfrauen, den runden Raum zu betreten. Wie die Pythia oder ein Detektiv versuche ich, der Handlung hinter den Holzspänen-Spiralen im Land Art Setting von Liina Magneas “Sehnsucht 3” zu folgen, und bin total fasziniert von Rike Horbs surrealer wackeliger Mauer.

Foto: Rike Horb „Gummimauer / flexible walls“, Performative Installation ©Dieter Hartwig

Nach der Begrüßungsansprache der Kuratoren fängt der performative Teil des Festivals mit dem Auszug aus Elisabeth Woods “Fa Li” (aufgeführt von The Gray Voice Ensemble) in Jared Gradingers Impossible Forest/Magical Garden an. Beim Anblick der Kostüme taucht die – trotz Mundschutz – fast vergessene Covid-Problematik wieder auf: der mit Primärfarben bekleidete Chor – eine Art von Sprach-Superhelden, da Rot, Gelb und Blau auch an das Kostüm von Superman erinnern – ist auch mit mehr oder weniger versteckten Plastikvisieren ausgerüstet. Es ist kein Konzert, sondern eine Performance, die durch ein mehrsprachiges Stimmen-Gewebe erzeugt wird. Der Chor, aus Laien, singt nicht nur, sondern bewegt sich auch, größtenteils mit kleinen Gesten, die einen Bezug zum Text haben. Die Überlagerung von Sprachen und Gesangsstilen führt zu einem kauderwelschartigen Effekt. Die so entstandene babylonisch akustische Landschaft greift um sich, verschmilzt für mich mit dem Impossible Forest, und bringt diesen zur Geltung, wenn schon etwas Wind in den Pflanzen zu einer dramatischen Wirkung führt.

Am selben Abend wurde auch Antonia Baehr und Latifa Laâbissis “Consul and Meshie” gezeigt, worüber Annette van Zwoll auf tanzschreiber in „Apes and Humans“ (11.09.2020, auf Englisch) berichtet. Die Tanznacht Berlin Vertigo (Part One) ist noch bis Sonntag, 13. September 2020 in der Tanzfabrik in der Uferstudios zu sehen. Das umfangreiche Festivalprogramm kann hier abgerufen werden.

Foto: Tanznacht Opening – „Fa Li (Auszug)“, The Gray Voice Ensemble, Leitung Elisabeth Wood ©Dieter Hartwig


[1] Nachzulesen in der Publikation Tanznacht Berlin 2020.

2 Auch mit Live-Performer*innen sind Hana Lee Erdmans “Animal Companion” (Ausstellungsbegleitung, von Mittwoch bis Samstag zu erleben) und Mmakgosi Kgabi & Dasniya Baddhanasiris “An Unboxing Ballet Beat” (nur zur Finissage am Sonntag). Nach Bedarf kann die Ausstellung auch durch haptische Führungen von Jess Curtis/Gravity erlebt werden.