„Worn and Felt“, Zwoisy Mears-Clarke © Zwoisy Mears-Clarke

Die Wirksamkeit des Zuhörens

Zwoisy Mears-Clarke präsentiert mit „Worn & Felt“ eine bewegende und durchdacht künstlerische Arbeit im Hochzeitssaal der Sophiensaele.

Spielregeln
An einem dieser erfrischenden Frühlingsabende, an denen der Himmel sich weit und offen anfühlt, der Wind einen leicht umweht, es überall duftet: Etwa zu zwanzigst sitzen wir in Erwartung unserer 18:30-Performance im dritten Stock der Sophiensaele, knabbern unter den großen Fenstern Salzstangen und nippen an Wasser mit Zitronensaft. Doch bereits jetzt ist es anders als sonst: Anstelle von Programmen sind zwei Poster mit den Namen des Teams auf die Türen geklebt, und es gibt mehrere Kopfhörerpaare, über die wir Zwoisy Mears-Clarke lauschen können, dem Schöpfer der Arbeit dieses Abends, das künstlerische und das Produktionsteam aufzählend und ihnen dankend. Von Anfang an ist da Inklusivität und Bedachtheit in der Art und Weise, wie die Dinge zusammengebracht werden.

Zur geschlagenen halben Stunde erscheint Mears-Clarke mit einer Gruppe von fünf Performer*innen und beginnt „Worn & Felt“ damit, dass er die Spielregeln für den Abend erläutert. Wenn Sie denken, das komme vielleicht pedantisch rüber, das war es ganz und gar nicht. In einem Zeitalter, in dem die Regeln einer Performance sich stark von der nächsten unterscheiden können, kann es nur hilfreich sein. Mears-Clarke erzählt uns, dass wir einen fast komplett lichtlosen Raum betreten werden, und dass wir physisch die Performer*innen miterleben werden; dass wir – oder eher eine Gruppe vierer von uns – für den ganzen Abend bei einer*m der Performer*innen bleiben werden; dass wir sie behutsam berühren werden, kein Gewicht auf sie geben, sie nicht ziehen oder schieben sollen, und sie nicht an intimen Stellen berühren, insbesondere an Brust, Brüsten, in der Leistengegend oder am Gesäß. Einfach und klar auf den Punkt gebracht. Aber Mears-Clarke, der über sein eigenes Deutsch stolpert und über seine eigenen kleinen Fehler lacht, bleibt dabei bezaubernd und unbeschwert: „Wenn ihr zufällig doch jemanden berührt“, erklärt er uns, „macht euch keine Sorgen. Wir werden eure Hand an eine andere Stelle legen.“ Mears-Clarke widmet die Performance dieses Abends einer kolumbianischen Aktivistin und wir sind eingeladen, uns selbst eine eigene Widmung zu überlegen. Eingestimmt, auch ein klein wenig ängstlich, und doch in guter Gesellschaft, lassen wir uns Hand in Hand von den Performer*innen ins Dunkel leiten. 

Das Dunkel
Das Dunkel ist so voller Geräusche, Gerüche, Zögern, das herrührt von unseren unsicheren Füßen und misstrauischen Ohren. Ich fühle mich hyper-aufmerksam, und meine drei Mit-Zeugen scheinen das Gleiche zu fühlen. Die Performer*innen, denen wir folgen, führen uns zu einem bestimmten Ort im Raum, dort beginnen wir ihre Körper zu spüren, die Textur des Stoffes ihrer Kleidung, ihr Haar, ihre Haut. Sie beben von Zeit zu Zeit. Zuweilen fühlt es sich an, als wollten sie uns ab- oder wegschütteln, zuweilen scheint die Vibration ein Spüren des Raumes zu sein. Aber später wird uns wieder klar, es hat nichts mit uns zu tun. Wir sind ja hier, um Zeugen zu sein. Und das wird etwa in der Mitte der Performance deutlicher, als die Performer*innen uns zu der Wand führen, an der sie eine Reihe bilden – immer noch im Dunkeln – und anfangen zu sprechen. Erst ist es schwierig zu verstehen, was sie murmeln, aber es wird bald klar. Ein stinkender Schwall von Schimpfworten durchdringt die Luft. Mein Instinkt sagt mir wegzugehen; eine Hand an ihren Rücken zu halten scheint so sinnlos, wenn nicht sogar falsch (wer bin ich, dass ich durch meine Berührung noch irgendwelchen Druck hinzugebe?); der äußere Rand meines Fußes findet den äußeren Rand des anderen Fußes; ich versuche nah zu sein, da zu sein, ohne dass ich jedoch annehme, ich könnte irgendetwas tun. Fragen schießen mir durch den Kopf, was es bedeutet Zeuge zu sein, zur Seite zur stehen, zuzuhören, aktiv oder passiv zu sein, und zu wissen, was in solch einem Moment gebraucht wird, und wühlen mich auf und bringen mich durcheinander. Ich versuche gegenwärtig zu bleiben.

Das Beben im Raum – nicht nur unserer Performer*innen – nimmt zu. Wir bewegen uns durch den Raum, aber als wir schließlich wieder zu einem festen Ort kommen, bewegen sich manche noch weiter. Der Schädel einer Performerin landet schmerzhaft auf meinem Schlüsselbein, als sie aufschreit und ihre Gruppe vorwärts longiert. Aber dann gleiten wir alle in stille Bewegungslosigkeit. Wir lassen ein wenig los. Doch wir bleiben in der Nähe, lauschen, sind bereit, aktiv.

Anschließendes Gespräch
Zehn Minuten später sitzen wir wieder zusammen in dem Raum mit den großen Fenstern, trinken Tee unter dem sich verdunkelnden, aber immer noch blauen Himmel. Mears-Clarke erklärt, wie diese Arbeit aus dem Nachdenken darüber entstanden ist, wie man Emotion in Anti-Rassismus-Aktivismus einbinden könne (das Eine, was Neonazis und People-of-colour-Gruppen verbinde, stellt Mears-Clarke heraus, sei Wut), aus dem Lesen Schwarzer-Feminismus-Theorie, und dem Versuch, einen Weg zu finden, die Erfahrungen und Strukturen, über die er gelesen hat, in die Praxis umzusetzen. Opferorientierte Justiz und Wachstum aus einer „Auseinandersetzung mit rassistischen Rückständen“ zu finden, erklärt er, sind Methoden, die der Tat oder dem Straftäter nicht ausweichen, sondern eher versuchen mit allen Seiten der Geschichte umzugehen, bis eine Gemeinschaft gemeinsam weitergehen kann. Sie gründen auf Zuhören und im Sinne kollektiver Geduld und Beharrlichkeit auf dem Bleiben – oder dem Zurückkehren – bis die Menschen einander hören.

Im Stück werden kaum hörbare akustische Signale für die Performer*innen gegeben, um von einem Teil ihrer Partitur zum nächsten überzugehen. Ich frage, wie diese Struktur funktioniert, nicht zuletzt, was unsere Berührung angeht – wird durch unsere Teilnahme nichts kommuniziert oder beeinflusst? Aber es geht nicht um uns, antwortet Mears-Clarke. Es geht darum, Zeuge der Geschichte und des Schmerzes einer anderen Person zu sein, es geht darum, zuzuhören, da zu sein. Als jemand, der lebendig ist, mitfühlend, ist es schwer, in dem Moment nicht „die Dinge besser“ machen zu wollen, sie zu reparieren, zu lösen. Doch wie können wir lernen zuzuhören – auditiv, mehrdimensional, emotional – jenen, die uns nah sind, und jenen, die uns nicht so vertraut sind? Das ist eine weitaus größere Gabe.

Deutsche Übersetzung von Wenke Lewandowski