Das Tanztheaterstück Gargoyles von Anne Welenc premiert am 3. November 2024 im Ballhaus Ost und bringt neue Perspektiven auf bekannte Schurkinnen.
An einem Sonntagabend, kurz nach Halloween, befinde ich mich auf der Bühne des Ballhaus Ost. Die Performer*innen sitzen währenddessen auf der Tribüne, auf der sich normalerweise, in aufsteigenden Reihen, die Stühle der Zuschauer*innen befinden. Heute geht es um das Böse (wie auch auf einer mit Graffiti bemalten kleinen Trennwand auf der Tribüne lesbar). Genauer gesagt um Bösewichte, und zwar um weibliche. Zwei Schurkinnen der Literaturgeschichte werden uns in Form von Gargoyles präsentiert. Alle, die wie ich, erstmal nicht wissen, was oder wer Gargoyles sind, werden sanft an das Thema herangeleitet: gotische Wasserspeier, versteinerte groteske Kreaturen, mal Mensch, mal Tier, mal Fabelwesen; meist angsteinflößend, hüten sie die Fassaden alter Gebäude und leiten dabei praktischerweise das Regenwasser ab. Auch die Performer*innen des heutigen Abends, Samia Chancrin und Renae Shadler, nehmen viele Formen an. Sie posieren mit Grimassen, offenen Mündern, narrenhaft, auf allen Vieren kriechend, hoch erhobenen Hauptes, gruselig, traurig auf den verschiedenen Ebenen der Tribüne. Sie mustern mich, uns genau. Von weit oben, mit gesenktem Blick. Es besteht kein Zweifel, diese Figuren haben nichts Gutes im Sinn.
Mit Hilfe eines Spiels finden die Gargoyles in ihre jeweilige Form: Medea und Macbeth. Medea findet sich schwanger außerhalb der Stadtgrenze von Korinth wieder, in vager Vorahnung, dass etwas nicht stimmt. Dabei wartet sie auf ihren Geliebten, ruft nach ihm, schickt ihm Sprachnachrichten. Ob er im Club mit seiner Flamme untergetaucht ist? Ausschnitte aus literarischen Werken werden mal vorgetragen, mal neu interpretiert dargestellt. In Interviews werden die Figuren zu ihren tatsächlichen Haltungen befragt: jenen, die über den männlichen Blick der Autoren hinausgehen. Zwischen den Szenen begeben sich die Darsteller*innen in menschlichere Rollen, sie quatschen miteinander und mit uns, wie unter Freund*innen.
Diese intimen Szenen weichen Momenten anderer Größe: Medea nimmt fast den gesamten Bühnenraum ein, mit einem Kleid von großem Durchmesser, ihre Schlangenhaare werden von tänzerischen Armen dargestellt. Ich empfinde die Situation als bedrohlich, erhaben und witzig zugleich. Diese spielerischen Elemente finden sich immer wieder im Stück. Auch Macbeth wird überspitzt dargestellt, in Abendrobe performend, nimmt sie die Schuld aller auf sich. Die Eindeutigkeit des Bösen wird gebrochen, nuanciert. Die Charaktere ermächtigen sich der aufgezwungenen Erzählungen und nutzen diese „to sound more edgy“. Am Ende sind auch die Rollen der Bösewichte Ansichtssache und dass Gargoyles auch „full body rain goddesses“ sein können, liegt auf der Hand.
Ich verlasse das Ballhaus mit dem Ohrwurm „It’s me, hi, I’m the problem, it’s me“. Taylor Swifts Antihero begleitete das Ende des Stückes und lässt mich darüber nachdenken, wer die Schuldtragenden in meiner Erzählung sind. Anders als erwartet, sah ich an diesem Abend keine unbezwingbaren, unangefochten Schurkinnen. Dafür aber entstigmatisierte nuancierte Charaktere, die ihren männlichen Erfindern und gesellschaftlichen Narrativen trotzen.
Gargoyles von Anne Welenc feierte am 3.11.2024 im Ballhaus Ost Premiere.