The Brotherhood, Carolina Bianchi & Cara de Cavalo ©Mayra Azzi

Allem voran bin ich Mann

The Brotherhood ist Carolina Bianchis und Cara de Cavalos zweiter Teil der Trilogie Cadela Força, nuanciert, verletzlich und stark zugleich. Das Stück über das Patriarchat hinter sexueller Gewalt ist im HAU, vom 30. Oktober bis 1. November zu erleben.

Das Blatt vor mir ist leer, ich weiß nicht recht, worüber ich schreiben soll. Dabei habe ich viele Notizen, bin erfüllt von einprägsamen Momenten, mitreißenden Monologen und humorvollen Choreografien von The Brotherhood. Das Stück hat alles gesagt und ich bin betroffen von der Präzision der Aussagen. Sexuelle Gewalt wird mit Blick auf die Kunstszene der Vergangenheit und Gegenwart verhandelt. Ich fühle mich gleichzeitig mitten in der Handlung, so als könnte jeden Moment meine eigene Geschichte erzählt werden, und weit entfernt, als voyeuristische*r Betrachter*in.

Der erste Teil des Abends ist gefüllt mit Humor, Gespräche sind überspitzt. Die Männergruppe, die Tänzer, wirken nahezu wie eine Karikatur. Aus dem Kontext genommen wären einzelne Dialoge fast lustig  – wäre da nicht die bittere Realität, dass diese und ähnliche Vorkommnisse, in der einen oder anderen Form – in vielerlei Formen – häufig, wiederkehrend, irgendwo auch jetzt, in diesem Moment, vorkommen.

Bianchi und de Cavalo entlarven die Misogynie hinter dem künstlerischen Genie und damit eine kollektive Illusion. In fast linkem Ton spricht ein Regisseur, eloquent aber abwertend; in der Kunst ist schließlich alles erlaubt. Vorher masturbiert Carolina Bianchi zu dem Interview eines anderen großen Künstlers. Man muss sie doch lieben, die europäischen Klassiker und die Männer dahinter. Zu A Victory Of Love von Alphaville posen sieben Tänzer und nehmen mit ihrer (performativen) Männlichkeit den ganzen Bühnenraum ein. Sie finden einander in Synchronität, finden ihre gemeinsame Sprache, boxen spielerisch und machen, was Männer halt so machen. Die Szene erscheint fast wie ein Popvideo, nur die Frontsängerin fehlt. Die ist auch mit anderen Sachen beschäftigt…

Nachdem der großartige Regisseur Suizid begeht, wird in der Bruderschaft kollektiv getrauert; im Gleichschritt, mit roboterähnlichen Bewegungen, ausgestreckten Armen und aufgerissenen Mündern. Dann, in einem Stillbild vereint, das an alte Fotos erinnert, präsentieren sie ihre gemeinsamen Pakt: Unterstützung, Freundschaft und über alles: Schutz. Leichte Bewegungen brechen die Stille wie ein flüstern, ein Gerücht – wer wird wohl der neue Master? Somit beginnt das große Präsentieren. Erst ein Solo mit aufwendigen Mustern und schnellen Bewegungen der Beine – Applaus von der Gruppe; dann ein akrobatisch ausgeführter Radschlag – Jubel; am Ende reicht ein dramatisches Schnipsen aus, um die Brüder zu begeistern. Im Initiationsritus wird mehrstimmig Let A Boy Cry gesungen und damit auch die männliche Vulnerabilität als Stärke gefeiert. Die Szene ist schön, ergreifend. Ich schwanke zwischen Verständnis, Mitleid, Neid und Abneigung.

Im letzten Teil lesen die Männer Auszüge der 500-seitigen Forschung von Bianchi. Sie berichten von Till Lindemann, Gisèle Pelicot, der Bukkake Gang, künstlerischen Inszenierungen von Vergewaltigungen, lesen Tagebucheinträge. Kurz wird in die eigenen Reihen geschaut: „Viele von unseren Brüdern haben vergewaltigt, auch wenn es schwer zu glauben ist.“

Gewalt hat viele Formen. Laute und leise, direkte und zwischen den Zeilen. Warum ist unser Aufschrei erst dann zu hören, wenn – und oft nicht einmal dann? Es ist nicht einfach über sexuelle Gewalt zu sprechen und schon gar nicht das Thema gekonnt auf die Bühne zu bringen. The Brotherhood ist mitreißend und nuanciert und lässt mich mit neuen Blickwinkeln auf Männlichkeit zurück. Bianchi richtet über die Männer auf der Bühne, aber allem voran uns, die Gesellschaft, die jene wie sie trägt und ermächtigt.

„Shame must change sides!“, denn auch meine Tränen sind reiner Stein.


The Brotherhood von Carolina Bianchi und Cara de Cavalo wurde vom 30.10.-01.11.2025 im HAU gezeigt.